Nachruf auf Rolf Michaelis

1933 - 2013

rgendwann Mitte der 90er Jahre holten wir Rolf Michaelis in der Hamburger Redaktion ab (wir: zwei Johnson-Leser, die er Jahre lang beharrlich ›junge Johnson-Forscher‹ nannte). Er kam von der »Schicht«, eine Nummer der ZEIT war fertig geworden. Nach fünf Minuten wussten wir, wie mühsam zustande gekommen war, was am nächsten Tag leicht zu lesen sein würde. Er führte uns in ein Lokal mit Garten. Während wir Platz nahmen, sprachen wir schon über Uwe Johnson. Rolf Michaelis bestellte, auch für eine Dame, drei Tische entfernt, eine Schauspielerin. Als sie ihren Sekt bekam, drehte sie sich zu uns um. Michaelis deutete eine Verbeugung an, voll Anerkennung und Vergnügen, und signalisierte dann Bedauern: Dieses Mal müsse die Aufmerksamkeit etwas anderem gelten: Uwe Johnson. – Was immer der Gegenstand seiner Neigung war, Michaelis verlor die Welt darüber nicht aus den Augen. Und wann immer es ihm möglich war, zwei seiner Leidenschaften gleichzeitig nachzugehen, tat er dies.

Rolf Michaelis hat eine Epoche der deutschen Literatur als wohlwollende Instanz begleitet. Seine Laufbahn im Feuilleton begann er bei der Stuttgarter Zeitung. Ab Mitte der 60er Jahre leitete er das Literaturblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ab 1973 den Literaturteil der ZEIT. Von 1985 bis 1998 schrieb er für die Wochenzeitung als Feuilleton-Redakteur.

Michaelis war ein begeisterter Leser. Er las gründlich und kam zu entschiedenen Urteilen. In seiner Begeisterung scheute er keine Mühe, um den Autoren und ihren Lesern nützlich zu sein. Aus dieser Haltung heraus entstanden nicht nur seine Besprechungen, sondern ganze Bücher. Das Kleine Adreßbuch für Jerichow und New York dürfte das bekannteste Beispiel dafür sein. Das Finde-Buch war alles andere als philologische Buchhalterei. Es war ein Beispiel für die Phantasie des Rezensenten, der sehr genau wusste, bis zu welchem Detail sich andere Leser begleiten lassen – und ab wann deren Phantasie sich der Geschichte Gesines bemächtigen würde.

Wie weit Michaelis’ Vorstellungskraft reichte, kann man seiner Studie über Gerhart Hauptmanns Tragödien, Der schwarze Zeus, ablesen. Keins der Stücke habe er gesehen, teilte er mit, doch betrachte er sie aus der Sicht eines Theaterkritikers. Das Buch sei der Versuch, sich von den Texten aus »eine imaginäre Aufführung zu erarbeiten«. Noch vornehmer ließ sich der Mangel an Gelegenheit nicht beanstanden, noch gründlicher nicht beheben.

Wenn es sich nicht umgehen ließ, erwähnte Michaelis germanistische Urteile, mit denen seine Begeisterung für die Literatur und das Theater konfrontiert worden war. Auch dies geschah mit Entschiedenheit und Eleganz, gelegentlich Dürrenmatt zitierend: Es interessiere ihn nicht, wie das in die Kompottgläser der Literaturgeschichte Eingemachte etikettiert sei. Da sprach jemand vom Fach über das Fach. Rolf Michaelis hatte 1958 über Hölderlins Oden promoviert, bei Friedrich Beißner in Tübingen. Er neigte nicht dazu, den Titel zu führen.

Einem solchen Germanisten trauten die Autoren. Uwe Johnson vertraute ihm handschriftlich an, dass er die berühmten ersten Sätze der Jahrestage auf einer Schreibmaschine im Büro geschrieben habe.

Rolf Michaelis ist am 3. April im Alter von 79 Jahren in Hamburg gestorben.