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Stasi-Forscher Dr. Matthias Braun zu Gast in Rostock

|   Vortrag | #Stasi#Matthias Braun

Konferenzraum Universität Rostock (Schwaansche Straße 2 | 18055 Rostock)

Am 25. Januar war Dr. Matthias Braun bei der Uwe Johnson-Gesellschaft zu Gast. Braun, seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berliner Stasiunterlagenbehörde (BStU), forscht zur Wirkungsweise des MfS im Kulturbereich der DDR und hat sich in den letzten Jahren besonders dem Thema »Darstellung der Staatssicherheit in der Literatur« gewidmet. Im Konferenzraum der Universität in Rostock gab er unter dem Titel Mit Uwe Johnson fing es an. Das Stasi-Thema in der zeitgenössischen Literatur einen Überblick über diese Arbeit.

Sie bereichert die Johnson-Forschung um ein auch zeitgeschichtlich aufschlussreiches Moment.

Johnsons Buch Mutmassungen über Jakob ist nicht nur die erste literarische Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit, es setzte zugleich auch den ästhetischen Standard. Seit diesem 1959 erschienenen Roman wurde das Wirken der DDR-Geheimpolizei nicht wieder so präzise und komplex behandelt. Das gilt formal wie inhaltlich. Johnson billigt dem Stasi-Hauptmann Rohlfs eine eigene Stimme zu. Gleichberechtigt zu den anderen Stimmen darf er Vermutungen über den mysteriösen Tod des Eisenbahners Jakob Abs anstellen, und damit seine eigene Version der Geschichte vortragen. Mit Rohlfs' inneren Monologen werden die Gedankengänge eines Geheimdienstmannes offengelegt und dem System seine geheimnisvolle Aura genommen. Rohlfs wird von Johnson als zweifelnde und am Ende tragische Figur fernab aller Klischees beschrieben. Viele der im weiteren Verlauf von Braun vorgestellten Texte erliegen gerade diesen Klischees und Stereotypen. Das passt zu der weitverbreiteten Tabuisierungen des Themas Staatssicherheit in der Literatur beider deutscher Staaten.

Matthias Braun warf einen Blick auf die wenigen Autoren, die vor 1989 das Schweigen brachen, und die dazugehörigen Werke. Er behandelte Volker Brauns Unvollendete Geschichte (1977) und Christoph Heins Tangospieler (1989) sowie die nur im Westen veröffentlichten Texte von Reiner Kunze (Die wunderbaren Jahre, 1976), Rolf Schneider (November, 1979) oder Hans Joachim Schädlich (Tallhover, 1986).

Mit der Öffnung der Akten Anfang der 1990er Jahre fand die literarische Tabuisierung der Stasi zwar ein Ende, dennoch lassen sich die Texte, in denen das Sujet tiefgreifend behandelt wird, an zwei Händen abzählen. In den groß angelegten Wenderomanen (Nikolaikirche von Erich Loest, Ein weites Feld von Günter Grass sowie Uwe Tellkamps Der Turm) stehen andere Konstellationen und Themen – wie Familie oder Deutsche Geschichte – im Vordergrund. Jüngstes Beispiel sei der mit dem Deutschen Buchpreis 2011 ausgezeichnete Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge.

Andere Texte, wie Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) oder der 2009 erschienene Roman Ich schlage vor, dass wir uns küssen von Rayk Wieland, versuchten das Thema satirisch zu fassen und die Stasi der Lächerlichkeit preiszugeben. Als ästhetisch interessantesten Text führte Braun Wolfgang Hilbigs Ich an. In diesem 1993 erschienenen Roman versuche Hilbig eine Perspektive einzunehmen, die die Trennlinie zwischen Täter und Opfer mit beißendem Spott in einer surrealen Phantastik aufhebe.

Hilbigs besonderes Buch wurde in der Diskussion mehrfach aufgegriffen: Seine provozierende Modernität steht außer Frage. Auch Brauns Thesen über das Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Verstrickung und literarischer Distanz boten viel Stoff zum Gespräch. Liegt es tatsächlich an ‚persönlichen‘ Gründen, dass die Staatssicherheit sich in so wenigen Texten finden lasse? Oder gibt es nicht auch literarische Gründe?

Wie schon bei anderen Gelegenheiten waren Johnsons Texte der Anlass, auch über die Ansprüche an die Gegenwartsliteratur zu sprechen. Matthias Braun befand, Christa Wolf habe mit ihrem letzten Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) die Chance vertan, ihre eigene Geschichte kritisch einzuordnen und zu neuen Einsichten zu gelangen. Als Gegenstück dazu empfahl er Susanne Schädlichs ein Jahr zuvor erschienene Erinnerungen Immer wieder Dezember – der Westen, die Stasi, der Onkel und ich, mit denen die Tochter von Hans Joachim Schädlich (der Onkel Karlheinz bespitzelte jahrelang die Familie, auch als diese schon im Westen war) exemplarisch zeige, wie die Lektüre der Stasiakten auch ein »Akt der Selbstvergewisserung« der eigenen Biografie sein kann.